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FORSCHUNG ÜBERVÖLKERUNG

Schweigende Masse
John B. Calhoun, 52, Forscher im Dienst der amerikanischen Bundesgesundheitsbehörde, schuf die paradiesisch anmutende, perfekte Wohnwelt: ein Boarding-Haus mit 256 Appartements, großzügig ausgestattet mit Proviantstellen, einer "Stätte der Begegnung" und klimatisierter Wärmezufuhr. Dann quartierte er die ersten Bewohner ein -- acht weiße Mäuse.
Der Einzug in das luxuriöse Liliput (2,5 Meter lang, 2,5 Meter breit) bekam den Tieren schlecht. In der problemlos scheinenden Umgebung, so berichtete Calhoun jüngst In dem US-Wissenschaftsblatt "Smithsonian", hätten sich die Nager nach wenigen Generationen zu "Un-Mäusen" gewandelt.
Innerhalb von nur zwei Jahren war die Bewohnerzahl der Mäuse-Villa auf 2200 angewachsen. Die Folge: Unter dem Druck dieser Bevölkerungsexplosion zerbrachen alle sozialen Strukturen, sonst mäuseübliche Verhaltensweisen wurden deformiert.
Für die nächsten Monate nun prophezeite der Wissenschaftler der einstigen Mäuse-Wohlstandsgesellschaft den endgültigen Untergang: Seit einem Jahr wurde in dein Nager-Asyl kein Nachwuchs mehr geboren; bis Anfang letzten Monats schrumpfte die Zahl der Bewohner auf 1600. Und in der verbliebenen Mäuse-Population sind mittlerweile auch die jüngsten der noch lebenden Weibchen schon in den Wechseljahren -- sie werden kaum mehr fähig sein, Nachwuchs zu produzieren. Die jüngste Maus im Boarding-Haus, so ermittelte Calhoun, ist -- übertragen auf die menschliche Lebensspanne -- etwa 40 Jahre alt.
Zwar räumt der Forscher, der sich schon seit mehr als 25 Jahren mit solchen Übervölkerungsexperimenten befaßt, ein, daß Ratten und Mäuse "keine perfekten Modelle" für menschliches Verhalten seien. Aber er zieht die Parallelen dennoch: In den nächsten 15 Jahren, so Calhoun, müßten die Menschen Entscheidungen treffen, wenn sie das Überleben ihrer "einzigartigen Spezies" sichern wollten. "Das Desaster, das die Mäuse uns vorexerzierten", so Verhaltensforscher Calhoun, "ist so zwingend, daß die Welt nicht jeden einzelnen Beweis in dieser Gleichung abwarten kann."
Anfangs hatten sich die acht Ur-Einwohner in Calhouns künstlicher Überflußgesellschaft normal entwickelt. Die Population vermehrte sich auf 150 Tiere -- eine Idealziffer, die allen genügend Spielraum zu einem "ausgeglichenen und zufriedenen Leben" (Calhoun) bot.
Rasch jedoch bewogen das Ausbleiben belastender Faktoren -- wie etwa räuberischer Katzen oder giftstreuender Kammerjäger -- sowie das Fehlen von Krankheiten die Meute zum ersten großen Sprung nach vorn: auf mehr als 600 weiße Mäuse.
Die etablierten Stammesmitglieder hatten mittlerweile 14 exklusive Zirkel gebildet, in denen sie sich, Calhouns Beobachtungen zufolge, "anscheinend besonders wohl fühlten". Doch als die Nachkömmlinge Anschluß an die Gruppen suchten, wurden die meisten schroff abgewiesen. Nur einigen wenigen gelang es, sich einen Platz in der geschlossenen Mäuse-Society zu ergattern. Die Masse, über 400 Stück, sonderte sich ab und sammelte sich in der Mitte des Geheges. Und selbst dort, notierte Calhoun, wurden die Rangniederen vom Establishment "behandelt wie der letzte Dreck".
Einmal außerhalb des Systems gerückt, reagierten die Unterdrückten mit extremer Gewalttätigkeit. Und einem irrationalen Drang folgend, fingen die Ausgestoßenen sogar an, sich untereinander zu bekämpfen -- zu geregelter Fortpflanzung kam es nicht mehr.
Hingegen vermehrten sich die Alteingesessenen "geradezu mit Verbissenheit" weiter, "wie die Lemminge vor ihrem Todesmarsch zum Meer".
Damit geriet der einstige Lustgarten vollends zum Inferno. Die jungen Mäuse gingen in der quirlenden Masse unter. Nur wenigen gelang es noch -- trotz der wütenden Bisse von Artgenossen -- zu kopulieren.
Schließlich, so vermerkt der Forscher, "hing ein Schleier des Schweigens über der schlaffen Masse". Die Tiere hatten auch noch aufgehört, die Quietsch- und Pfeifsignale auszustoßen, mit denen sie sonst ihr Sozialgebaren untermalten. Calhoun: "Die meisten Tiere wuchsen zu passiven Klumpen von Protoplasma heran, physisch gesund, aber sozial steril, eingefroren in einer Art kindhafter Trance."
Einige dieser -- für Übervölkerung offenbar charakteristischen -- Verhaltensweisen finden sich nach Ansicht Calhouns auch schon in dichtbevölkerten menschlichen Siedlungen, etwa in den Slums der großen Städte. Auch dort seien die Kommunikationsmöglichkeiten, mit deren Hilfe gemeinsame Interessen formuliert und durchgesetzt würden, unmöglich gemacht worden. Die Ausbreitung von Gewalt, so Calhoun, sei "eines der ersten Alarmsignale für die Fehlentwicklung" der Spezies Mensch.
Mit zunehmender Bevölkerungsdichte, so deutet der Nagetierforscher diese Alarmzeichen, fänden auch Menschen nicht mehr genügend "soziale Räume", in denen sie zu sozialen Wesen heranreifen könnten -- und dieser Prozeß könne womöglich den ganzen Planeten erfassen, wenn nicht umgehend Sicherungen eingebaut würden.
Geradeso wie die Zahl der Mäuse im Gehege des amerikanischen Forschers verdoppelt sich auch die Zahl der Menschen in immer kürzer werdenden Zeitabschnitten. Von 1,25 Milliarden im Jahre 1868 wird sie bis Ende der achtziger Jahre dieses Jahrhunderts -- wenn der Trend unverändert bleibt -- auf fünf Milliarden angewachsen sein. Ohne rechtzeitige Änderung dieses Trends aber drohe den Menschen dasselbe Ende wie der Mäusepopulation im Käfig.
Nur ein weltumspannendes Kommunikationsnetz und die Zuhilfenahme von Computern, so Calhouns Theorie von Mäusen und Menschen, könne noch jenen neuen Bewußtseinszustand herbeiführen, der nötig sei, um das Desaster abzuwenden. Spätestens Mitte des nächsten Jahrtausends, so mutmaßt der Forscher, werde ein "Dawnsday", ein Tag der Morgendämmerung, über die Menschheit hereinbrechen.
Von diesem Zeitpunkt an werde die Weltbevölkerung für einige hunderttausend Jahre stetig abnehmen -- vielleicht bis auf die Ziffer, die der Mäuse-Forscher als ideale Bevölkerungszahl für den Planeten errechnet hat: 70 Millionen Menschen.
DER SPIEGEL 19/1971

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