.

Überlegungen zum 2.WK

Vom Polenfeldzug zum Weltkrieg
von Gerd Schultze-Rhonhof
Folgte Hitler 1939 einem Generalplan zur Eroberung der Weltherrschaft? War der Angriff am 1. September für ihn nur der erste Schritt zur Besetzung des gesamten eurasischen Kontinents? Viele Indizien sprechen dagegen.
Ein vieldiskutiertes Thema sind Hitlers Kriegspläne zu Beginn des Polenfeldzugs 1939. Die vorherrschende Historikermeinung in Deutschland geht davon aus, dass Hitler einen lang gehegten und seit 1933 vorbereiteten Langzeitplan für einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg um den „Lebensraum im Osten“ hatte.
Die vorherrschende Geschichtsschreibung
Manche Historiker sprechen auch von einem Rassen- und Vernichtungskrieg. Diese Mehrheitsmeinung geht dahin, dass Hitler 1939 nicht vorrangig die Danzig-Frage regeln, die wirtschaftliche Abschnürung Ostpreußens durch Polen mit Hilfe einer Autobahn durch den Korridor beenden und das Los der in Polen drangsalierten Deutschen mildern wollte. Diese Mehrheit ist der Überzeugung, dass Adolf Hitler 1939 Polen erobern wollte, um zusätzlichen Lebensraum für Deutsche im Osten zu erschließen. Um dies zu belegen, verweisen die genannten Historiker zum Ersten auf das Buch „Mein Kampf“, in dem Hitler 1924 geschrieben hat, Deutschland brauche neuen Lebensraum im Osten, und sie führen zweitens an, dass Hitler dieses Motiv in seinen Reden wiederholt genannt und er drittens das so Angekündigte 1941 mit dem Russlandfeldzug in der Tat umgesetzt habe. So sei es von 1924 an und auch 1939 stets sein Plan gewesen, Deutschland nach Osten hin zu erweitern. Alle Ereignisse um Danzig und so weiter seien ihm dabei nur willkommene Vorwände gewesen. Das klingt zunächst plausibel. Ein solcher Generalplan zur Osteroberung oder gar zur Welteroberung ist allerdings als Dokument nicht überliefert. Er ist bisher nur eine Hypothese.
Es muss zu denken geben, dass Hitler sein Lebensraum-Programm zwischen $Mein Kampf$ im Jahre 1924 und seiner im Hoßbach-Protokoll überlieferten Ansprache von 1937 bereits deutlich auf Österreich und die Tschechoslowakei reduziert hat. Beides war 1939 schon sozusagen erledigt. Auch die wirtschaftlichen Überlegungen, die Hitler 1924 zu seiner Lebensraum-Idee geführt haben, waren inzwischen durch den ausgedehnten und erfolgreichen Präferenzhandel mit 26 Export-Import-Partnerstaaten nicht mehr aktuell.
Die Gegentheorie
Hitler hatte 1924 zwar in seinem Buch „Mein Kampf“ geschrieben, und später mehrfach wiederholt, dass Deutschland „Lebensraum im Osten“ gewinnen und mit deutschen Bauern besiedeln müsse, und er hatte 1941 mit der Eroberung der Ukraine und Weißrusslands auch so gehandelt, aber er hatte diese Absicht in seinen ersten Amtsjahren wohl aufgegeben und selbst zu Kriegsbeginn 1939 nicht mehr verfolgt. Für diese These steht eine Zahl schwerwiegender Indizien.
1. Adolf Hitler hat die Wehrmacht nicht für einen Krieg im Osten rüsten lassen. Es fehlten Winterbekleidung, Logistik, Fernbomber und vieles mehr. Wenn er den Kampf um den Lebensraum im Osten 1935 bis 1939 noch immer im Sinn gehabt hätte, hätte er die Wehrmacht entsprechend ausrüsten lassen.
2. Hitler hat im September 1938 im polnisch-tschechischen Streit um die Stadt Oderberg gegen den Anspruch des deutschen Auswärtigen Amts entschieden, dass die tschechische, aber zu Teilen auch deutsch und polnisch besiedelte Stadt von Polen annektiert werden darf. Seine Begründung gegenüber dem AA: „Wir können nicht um jede deutsche Stadt mit Polen streiten.“ Wenn Hitler Krieg mit Polen hätte haben wollen, um den Weg nach Osten freizubekommen, hätte er hier nicht nachgegeben.
3. Am 14. März 1939 hat der Ministerpräsident der gerade selbständig gewordenen Karpato-Ukraine, Augustin Woloschin, sein Land unter die Schutzherrschaft des Deutschen Reichs stellen lassen wollen. Adolf Hitler hatte den dementsprechenden Antrag abgelehnt. Wenn Hitler Anfang 1939 noch immer den Plan verfolgt hätte, die Ukraine einmal als Lebensraum im Osten zu erobern, hätte er die Schutzherrschaft über diesen Teil der Ukraine übernommen und damit quasi seinen Fuß in der Tür der Ukraine gehabt.
4. Im August 1939 im sogenannten Zollinspektorenstreit zwischen dem Freistaat Danzig und Polen stand es dicht vor einem von Polen begonnenen Krieg. Hitler hat den Senatspräsidenten von Danzig jedoch gedrängt, für Entspannung zu sorgen und „die Angelegenheit nicht noch mehr zu vergiften“. Hätte Hitler so kurz vor dem dann wenig später von ihm selbst eröffneten Krieg den Konflikt mit Polen haben wollen, statt weiter zu verhandeln, hätte er den Danziger Zollinspektorenstreit nur weiter schmoren lassen müssen. Polen hätte den Krieg dann wohl selbst, wie angedroht, begonnen. Wenn Hitler unbedingt Krieg mit Polen hätte haben wollen, um Lebensraum im Osten zu gewinnen, hätte er diese Chance sicherlich genutzt.
5. Hitler hatte im August 1939, nachdem er den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion in der Tasche hatte, den schon angesetzten Angriffsbeginn der Wehrmacht auf Polen drei Mal verschieben lassen – jedes Mal mit der Begründung vor der Wehrmachtsführung: „Ich brauche noch Zeit zum Verhandeln.“ Wenn Hitler unbedingt seinen Krieg um den Lebensraum im Osten hätte haben wollen, hätte er die Wehrmacht zum Angriff antreten lassen, nachdem sie ja bereits voll aufmarschiert war und ihm Josef Stalin die erforderliche Rückendeckung dazu vertraglich zugesichert hatte.
6. Den ganzen August 1939 über liefen in Nürnberg und Berlin die Vorbereitungen für den nächsten Reichsparteitag, der ab dem 2. September in Nürnberg abgehalten werden sollte. Der Parteitag wurde erst sechs Tage vor Kriegsausbruch vertagt. Hitler hätte die Vorbereitungen für diese Großveranstaltung auf höchster politischer Ebene nicht auf vollen Touren und mit so viel Aufwand laufen lassen, wenn er damit gerechnet oder gar gewusst hätte, dass sie nicht stattfinden würde. Wenn der Polenfeldzug Teil eines lang gehegten Plans gewesen wäre, hätte Hitler den Reichsparteitag für 1939 lange vorher anderweitig terminiert. So ist eher zu unterstellen, dass Hitler damit gerechnet hat, dass er sich auf dem Parteitag mit einem Verhandlungserfolg um Danzig brüsten könne.
7. Am zweiten Tag des Polenfeldzugs hat Hitler der englischen Regierung den Rückzug der deutschen Truppen aus Polen und Entschädigung für alle bis dahin entstandenen Kriegsschäden an Polen angeboten, wenn London dafür in Warschau die Rückkehr Danzigs in das Deutsche Reich und eine exterritoriale Verkehrsverbindung vom Reichsgebiet nach Ostpreußen vermitteln würde. Hätte Hitler ganz Polen als deutschen Lebensraum erobern wollen, hätte er ein solches Angebot während des überaus erfolgreichen Feldzugbeginns nicht übermitteln lassen.
8. Nach dem siegreichen Polenfeldzug hat Hitler der englischen und der französischen Regierung Frieden angeboten. Zum Angebot gehörte die Räumung Polens durch die Wehrmacht, bis auf Danzig und den Korridor. Hätte Hitler Polen als Lebensraum im Osten haben wollen, hätte er dieses Angebot nicht gemacht.
9. Hitler hatte 1939 kein Konzept für die Eroberung eines Lebensraums im Osten. Er wusste – das geht aus Gesprächsaufzeichnungen hervor – während des Polenfeldzugs noch nicht, was er nach einem Sieg mit Polen anfangen sollte. Hätte Hitler 1939 noch immer vorgehabt, Lebensraum im Osten zu erobern, dann hätte er ein Konzept für das besiegte Polen parat gehabt.
10. 1940 hat Hitler in vertraglicher Absprache mit Stalin die vor etwa 200 Jahren in der Ukraine angesiedelten deutschen Bauern in den Warthegau, also an den Rand des Deutschen Reichs, umsiedeln lassen. Wenn er zu der Zeit noch immer deutsche Bauern in der Ukraine hätte ansiedeln wollen – wie in $Mein Kampf$ beschrieben – hätte er nicht das Gegenteil getan und die deutschen Bauern aus der Ukraine „heim ins Reich“ geholt.
11. Nach dem erfolgreichen Frankreichfeldzug hat Hitler die Panzer- und die Munitionsproduktion um ein Drittel zurückfahren lassen. Wenn er zu der Zeit an eine Fortsetzung des Krieges gegen die Sowjetunion gedacht hätte, um Lebensraum im Osten zu erobern, hätte er diese Reduzierung der Rüstung sicherlich nicht angeordnet.
12. Nach dem erfolgreichen Frankreichfeldzug hat Hitler 35 deutsche Heeresdivisionen auflösen oder kadern lassen. Wenn er zu der Zeit an eine Fortsetzung des Krieges gegen die Sowjetunion gedacht hätte, hätte er das sicher nicht veranlasst.
 13. Im Jahr 1945 erbeuteten die Sieger alle deutschen Akten und Archive und werteten sie unverzüglich nach Belastungsmaterial gegen die Reichsregierung und die Wehrmachtsführung aus. Im Nürnberger Prozess konnte trotzdem kein einziges Dokument vorgelegt werden, das auf einen deutschen Vorkriegsplan zur Eroberung Polens, der Ukraine oder Russlands hingewiesen hat. Hätte Hitler vor Kriegsausbruch geplant, Polen als Erweiterung des Lebensraums für Deutschland zu erobern, so hätten die Sieger nach dem Kriege sicherlich Akten hierzu präsentieren können.
Das sind 13 Sachverhalte, die dagegen sprechen, dass Hitler 1939 und 1940 noch immer vorhatte, Lebensraum in Osten zu erobern, auch wenn die eingangs erwähnten drei Sachverhalte – „Mein Kampf“, seine Reden und der spätere Angriff auf die Sowjetunion dafür sprechen, dass er den Germanenzug nach Osten 1939 und 1940 immer noch beabsichtigte. Ein Wissenschaftler bewertet alle Sachverhalte, die er kennt, und nicht nur die, die seine Thesen stützen. Dem Leser ist die Bewertung selbst überlassen.

___________________________________________________________________________________________________________


 

 

Diese Webseite wurde kostenlos mit Homepage-Baukasten.de erstellt. Willst du auch eine eigene Webseite?
Gratis anmelden